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Eryk Krasucki, Begegnungen. Über Weronika Fibichs und Natalia Szostaks Projekt/Prozess



1.   Einleitung. Treffen in Stettin am 17. Dezember 2021

„Alles begann in Niebuszewo“ [Stettiner Stadtteil, ehem. Zabelsdorf], sagte Natalia, sagte Weronika. Diesen Satz notierte ich mir mit einem grünen Feinschreiber auf einem Zettel in der Hoffnung, damit vielleicht meine Erzählung beginnen zu können. Bis Weihnachten waren es nur noch wenige Tage, auf dem kleinen Tisch lagen bereits Quarkbällchen, es roch nach Kaffee und Hundefell. Natalias Atelier im Stettiner INKU, dem sogenannten Kulturbrutkasten, ist geräumig und hell. Mein Blick wird von einem Polyptychon angezogen, er zeigt die Eltern der Künstlerin, ihren Bruder und sie selbst.

Ich schaute jedoch nur diskret hin, verunsichert durch die realistische und intime Darstellung. Daneben an den Wänden Sceny leśne [Waldszenen], ältere und neuere Werke, einige Bücher. Während unseres letzten Treffens lagen auf dem Boden bereits entwickelte Fotografien für die Greifswalder Ausstellung: Porträtfotos von Käthe und Martin Meyer aus der Fotoreihe „Sara & Israel“. Heute sind sie nicht mehr da, und doch sind sie es. Wir reden über sie, denn sie sind Teil eines großen Projekts von Weronika Fibich und Natalia Szostak. Der erste Part trug den Titel Die Übung, der zweite immer noch Schnee und Eis, derzeit hat das Projekt den Namen Experiment in Catastrophe angenommen.

In zwei Fällen knüpfen die Projekttitel an Hannah Arendt und ihre präzise wie auch kontroverse Reflexion an[1]. Beide beziehen sich auf deutsche Juden aus dem Regierungsbezirk Stettin, die im Februar 1940 in das besetzte Polen deportiert und dort ermordet wurden. Ich will das Werk der Künstlerinnen verstehen, mich mit ihrer Sensibilität, die sich von meiner unterscheidet, und ihrer Kommunikationssprache auseinandersetzen. Zunächst wende ich mich krampfhaft dem zu, was mir vertraut erscheint. Deshalb bin ich so begierig darauf, etwas über Niebuszewo zu erfahren, Informationen über vertraute Straßen und Hinweise auf die Vergangenheit zu erhalten, die ich einmal aus der Sicht eines Historikers beschrieben habe.

Schüchtern betrete ich dieses Terrain. Ich bin auf der Suche nach einem Sinn, habe Angst vor allzu forschen Urteilen und falschen Fährten, aber Natalia und Weronika ermutigen mich, diese Angst loszulassen, weil sie Wert auf meine Interpretation legen. Warum? Sie glauben, dass ich Teil des Projekts bin, als Wissenschaftler, aber auch als Rezipient, als jemand, der vielleicht nicht jeden Tag, aber immerhin oft durch die Straßen von Stettin spazieren geht, in denen Erinnerungen an die Schritte seiner einstigen Bewohner aufbewahrt sind, entlang der Gebäude, in denen sie gelebt haben.

Natürlich ist Stettin heute eine andere Stadt, doch wurde sie nicht komplett neu aufgebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir Polen sie neu besiedelt, obschon sie stark zerstört war, wir haben es uns in fremden Wohnungen bequem gemacht, uns mit der Zeit an die von den Deutschen zurückgelassenen Gegenstände gewöhnt. Einige davon gehörten deutschen Juden, aber diese hat man vollkommen vergessen. Man sprach ausschließlich von „Deutschen“, „Szwaby“, „Nazis“ und von „ehemals deutschen Sachen“. Es fehlte an jeglichem Bewusstsein dafür, dass der genozidalen Todeswalze auch in diesem Teil Europas gerade jene zum Opfer gefallen sind, die in der Sprache Goethes und Döblins sprachen und sich oftmals hundertfach stärker als deren Erben ansahen als etwa von greisen Rabbinern.

Uns fehlte es an Vorstellungskraft, um dies zu verstehen. Vielleicht haben wir uns mit dem eindimensionalen Bild einfach abgefunden, vielleicht ging es damals gar nicht anders. Es mag sein, dass es für eine breitere Perspektive auch zu früh war. Erst nach Jahren konnte dank der Entschlossenheit und beharrlichen Arbeit solcher Menschen wie etwa des Journalisten und Aktivisten Andrzej Kotula die Stettiner Geschichte des Jahres 1940 in das Narrativ über die Stadt und Region entsprechend eingebettet werden[2]. Wir haben sie nun als wichtig anerkannt, sie muss gepflegt werden, und das hat zur Folge, dass wir uns darum bemühen, ihr einen Platz im kollektiven Gedächtnis einzuräumen. Dies ist kein leichtes Unterfangen.

Als Motiv rückte das Schicksal der pommerschen Juden auch in den Fokus der Kunst. Es interessiert mich, weshalb sich zwei Künstlerinnen an der Schwelle des 2. zum 3. Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts diesem Thema zuwenden und welche emotionalen und intellektuellen Quellen ihrer Arbeit zugrunde liegen. Auch die Frage, wohin das alles führen soll, scheint nicht unwichtig zu sein. Die Antworten darauf suche ich in Anlehnung an das, was ich weiß, was ich erfahren habe, aber auch an das, was unausgesprochen bleibt. Denn die Stille ist in dem hier beschriebenen Kunstwerk in ergreifender Weise anwesend, als Tatsache und als Verweis.

2. Die Deportation der Juden aus dem Regierungsbezirk Stettin, 12.-13. Februar 1940

Das Projekt verweist auf ein konkretes Ereignis, obschon ich mir nicht sicher bin, ob das Verb „verweisen“ an dieser Stelle richtig ist. Vielleicht wäre es wahrheitsgetreuer zu schreiben, dass das Projekt in der Situation und den menschlichen Emotionen verwurzelt ist, die durch die in der Nacht vom 12. zum 13. Februar 1940 erfolgte Deportation ausgelöst wurden. Die Jahre davor waren von mühseliger Arbeit auf der einen und von Leid auf der anderen Seite geprägt. Die Arbeit bestand darin, Ekel gegenüber bestimmten Menschen zu erregen. Um dies zu erreichen, waren Ideen hilfreich. Diese waren einerseits widerwärtig, wie der Rassismus und Antisemitismus, an andere glauben hingegen viele bis heute, etwa an Modernisierung, Demokratie, soziale Gleichheit.

Denn entgegen dem, was wir heute oft zu glauben bereit sind, entsteht „[d]as Böse […] nicht allein aus dem Bösen, sondern aus dem prinzipiell Guten“[3]. Dieser Satz stammt vom herausragenden Kenner des Nationalsozialismus, dem Historiker Götz Aly, der auf überzeugende Weise darlegt, wie der gesellschaftliche Aufstieg ganzer Massen, der im Zuge der im 19. Jahrhundert erfolgten Umbrüche einsetzte und oftmals mit Stress, Unsicherheit und Enttäuschungen einherging, den Antisemitismus stark befördert hat. Aly erläutert auch, dass dieser Prozess angesichts der in den 1930er und 1940er Jahren in Deutschland herrschenden Umstände zu einem in seinem Ausmaß beispiellosen Verbrechen beigetragen hat, das den Schlussakkord des Zivilisationsbruches darstellte. Das Wort „Arbeit“ mag in diesem Zusammenhang als unangebracht erachtet werden, aber wenn man genau hinhört, was Adolf Eichmann während seines Prozesses in Jerusalem zu sagen hatte, so wird ersichtlich, welch große Anstrengungen, die sich hinter diversen Zahlen und organisatorischen Entscheidungen verbergen, damals unternommen, wie viele Bahngleise umgestellt, Menschen aus ihren Häusern vertrieben wurden, wie Menschen anderen ihr Hab und Gut wegnahmen, letztlich auch, wie Menschen andere Menschen ermordeten.

Ähnlich verhielt es sich mit der Deportation im Jahr 1940, der mehrjährige Vorbereitungen und eine Reihe bewusst getroffener Entscheidungen vorausgingen. Diese wurden mühselig erarbeitet und systematisch finanziert. Sie waren anfangs nicht unmittelbar auf die Vernichtung der Juden ausgerichtet. Denn die „Endlösung der Judenfrage“ war ein fürchterlicher Prozess, in dem Möglichkeiten und Unwägbarkeiten aufeinandertrafen. Die „Endlösung“ wurde anfangs unter dem Deckmantel der Politik und des Rechts umgesetzt, mit der Zeit unterlagen beide Sphären des öffentlichen Lebens einer Degeneration, am Ende auch deren Vollstrecker. Das Finale war der Tod in den Ghettos, Hinrichtungen in Wäldern, Todesgruben, Auschwitz, Bełżec, Treblinka und anderen Orten, an denen in bis dahin ungekanntem Ausmaß gemordet wurde. Der große Holocaust-Forscher und Historiker Raul Hilberg schrieb einmal, dass dieser Prozess einer „inneren Logik folgte, aber sogar für die Täter selbst nicht absehbar war. Ursprünglich lag er jenseits von Rationalität und Irrationalität“[4].

Dieser Prozess wurde vom Leid jener begleitet, die sukzessiv ihrer Menschlichkeit beraubt wurden. Er verlief in ganz Deutschland auf ähnliche Weise, daher war das Schicksal der pommerschen Juden keine Ausnahme. Es begann damit, dass Juden in bestimmten Behörden nicht mehr arbeiten durften (1933), dann folgte die rechtliche Diskriminierung durch die sogenannten Nürnberger Gesetze (1935), schließlich ging man zur symbolischen und tatsächlichen Gewalt über, was während der „Reichspogromnacht“ am 9. und 10. November 1938 auf brutale Art vor Augen geführt wurde. Dieses Vorgehen wurde von der Vertreibung von Juden aus dem Reich begleitet, die keine deutschen Staatsbürger waren (1938) sowie von permanenter „Überzeugungsarbeit“ zur Auswanderung auch jener, die deutsche Staatsbürger waren. All dies war maßgeblich auch dadurch motiviert, dass man den Löwenanteil jüdischen Eigentums übernehmen wollte, denn Ideologie hin oder her, der wirtschaftliche Faktor spielte eine große Rolle, zumal es Deutschland an Devisen mangelte. Am Ende kam es schließlich zur Deportation.

Diese bleibt bis heute für die Wissenschaft ein Rätsel. Ihre Absicht erschließt sich anhand der Planungen, der anvisierten wie auch tatsächlich umgesetzten, und doch bleiben Fragen offen. Die pommerschen Juden waren die erste Gruppe deutscher Staatsbürger auf dem Gebiet des „Altreiches“, die in solch großer Zahl (ca. 1.100 Personen) ohne jegliche Rechtsgrundlage und unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen aus Deutschland deportiert wurden. Wieso kam es dazu? Um das zu „versuchen“, was im darauffolgenden Jahr – denn Massendeportationen von deutschen Juden sollten im Herbst 1941 erfolgen – allumfassend durchgeführt werden sollte? Handelte es sich vielleicht um ein Experiment, anhand dessen geprüft werden sollte, ob die Welt gegen die Vertreibung von Menschen aus ihren Wohnungen protestieren würde? Oder sollte die schändliche Bestrebung von Gauleiter Franz Schwede-Coburg verwirklicht werden, der die Provinz Pommern als erste „judenfrei“ machen wollte? Es konnten auch ganz banale wirtschaftlich-organisatorische Gründe ausschlaggebend sein: Vielleicht wollte man einfach nur Platz für Deutsche aus den baltischen Ländern schaffen, die in das „Altreich“ „umgesiedelt“ wurden, um in der Schwerindustrie zu arbeiten. Hierfür gibt es gewichtige Argumente. Ohne eine vollumfassende Dokumentation können an dieser Stelle aber nur mehr oder weniger plausible Vermutungen angestellt werden. Für jene, die aus ihren Wohnungen in Stettin, Stargard, Greifswald oder Stralsund verjagt wurden, spielte all das sicherlich keine Rolle. Sie waren es, die mit einer unerwarteten wie ausweglosen Situation konfrontiert wurden.

Schockierend ist der Duktus der Anweisungen für die Funktionäre der NSDAP, SA und Gestapo, die unmittelbar mit der Ausweisung der Juden aus ihren Wohnungen betraut waren. Es wurde bewusst eine kühle und pragmatische Sprache gewählt, denn es ging darum, das Gefühl zu vermitteln, man nähme an einem gewöhnlichen Vorgang teil, würde eine normale Arbeitsaufgabe wahrnehmen. Wesentlich ist hierbei der technische Aspekt der Anweisungen, man sollte alles ordnungsgemäß, mit „Sorgfalt und Umsicht“[5] erledigen: die Unterlagen sauber und leserlich ausfüllen, den Ofen ausmachen, das Besteck, den Schmuck und das Bargeld genaustens zählen. Und das Wichtigste: Alles sollte im Stillen geschehen, Ruhe bewahrt werden, bloß keinen Lärm machen, um nicht die Nachbarn zu wecken. Ruhe ist eine wichtige Kategorie für die in dieser Nacht durchgeführte Arbeit. Es verblüfft, wie die Revolution, die im Namen nationalsozialistischer Grundsätze umgesetzt werden sollte, in einem ihrer wesentlichen Bereiche geradezu klammheimlich verlaufen sollte. Natürlich wurde überall die halsschreierische antijüdische Propaganda wahrgenommen, aber das Wesentliche wurde still und leise gemacht. Eine „lautlose Revolution“ mag als Oxymoron belächelt werden, denn was ist schon eine Revolution, von der niemand etwas hört? Hier gibt es aber nichts zu lachen, es überkommt einen ein Schaudern.

Wie können die abendlichen Besuche vom 12. und 13. Februar 1940 beschrieben werden? In einem Bericht erwähnt Dr. Erich Mosbach aus Stettin die Gestapofunktionäre, die seine Wohnung aufsuchten und deren Räumung befahlen. „[F]reundlich wie die Herren waren, wollten sie uns Gelegenheit geben, diesen Befehl ausführen zu können“[6], charakterisiert er jene, die ihn aus seiner Wohnung vertrieben, ihm erlaubten, einen Koffer mitzunehmen und ihn anschließend zusammen mit seiner Frau und Tochter zum Güterbahnhof eskortierten, ihn dort in einen Zug steckten, in dem er mehrere Stunden ohne Wasser und mit nur trockenem Brot verbrachte, und die dann den Befehl gaben, ihn einige hundert Kilometer gen Osten nach Lublin, in das besetzte Polen zu deportieren. Unterwegs konnte Dr. Mosbach durstige, durchgefrorene und sterbende Menschen erblicken, erniedrigte und entsetzte Menschen, die sich an jeden auch noch so winzigen Hoffnungsschimmer klammerten in dem Glauben, dass das, was mit ihnen geschah, letztlich ein gutes Ende nehmen würde. Zweifelsfrei ist seine Beschreibung des Auftritts der Gestapofunktionäre ironisch gemeint. Ich bin jedoch nicht der Ansicht, dass Ironie eine gute Erzählstrategie ist. Vielleicht ist dem aber so, doch nur im Kontrast zu dem, was Jahre später Manfred Heymann berichtete, der damals 11 Jahre alt war und an erster Stelle von Angst sprach. Als Kontrapunkt für den von Dr. Mosbach gebrauchten Begriff kann das Bild von zwei 90-jährigen Menschen eines Pflegeheims dienen, die auf Tragen hinausgebracht und direkt zum Bahnhof gebracht wurden. Die Ruhe war trügerisch.

Wie sah die besagte Nacht bei den eingangs erwähnten Meyers aus? Waren die unangekündigten Gäste Käthe und Martin gegenüber, die am Augustaplatz 3 (heute Plac Lotników) wohnten, gleichfalls „charmant“? Dies war und wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Dazu gibt es keine Dokumente. Aber was wissen wir über beide selbst? Nicht viel, nur das, was wir den im Stettiner Staatsarchiv aufbewahrten Kennkarten entnehmen können. Diese sind oftmals der einzige Nachweis über die Existenz jener, die 1940 deportiert wurden und gestorben sind bzw. einige Zeit später ermordet wurden. Käthe war 60 Jahre alt, hatte graue Haare und einen schüchternen Blick. Martin, acht Jahre älter als seine Frau, war Arzt und trug einen sauber zurechtgestutzten Bart. Man merkt, dass er sein Äußeres gut pflegte.

Wir wissen auch, was beide selbst über sich geschrieben haben, nachdem sie in das Gebiet des Generalgouvernements deportiert wurden. Sie wurden in das Ghetto in Głusk (bei Lublin) gebracht, von wo aus sie Briefe an ihre Freunde in den Niederlanden und in Schweden schickten. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie ihre Korrespondenz selbst zensierten, andernfalls hätten sie die Empfänger nie erreichen können. In ihren Briefen drücken sie ihre Sehnsucht nach vergangenen, ruhigeren Zeiten sowie ihre Freude über ganz alltägliche Dinge aus (die sie manchmal erhielten, manchmal nicht), etwa Päckchen mit Erfrischungen und Seife, oder sie schwelgten in Erinnerungen an Botticellis Gemälde, Spaziergänge am Vorabend des Frühlings, an die sie sich nostalgisch erinnerten, um auf diese Weise deutlich mitzuteilen, dass sie noch tatsächlich existierten. Die Briefe enthalten auch Informationen über das Leid, sie sind geprägt von Dunkelheit, dem Schweigen der Welt, Hunger, erfrorenen Füßen. In einem Brief schreibt Martin: „Sie, lieber Herr Magnus, beneide ich um Ihre geistige Elastizität, mit der Sie noch Ihre Sprachstudien treiben, mir fehlt in unserer Lage die seelische Ruhe und Spannkraft der Nerven dazu, und was ich früher einmal gekonnt habe, ist großenteils wieder vergessen, kaum daß es zum Lesen eines ordentlichen Buches ausreicht“[7].

Mit nahezu absoluter Gewissheit kann festgestellt werden, dass Käthe und Martin den Krieg nicht überlebt haben, sie befinden sich nicht unter den mit Vor- und Nachnamen bekannten 17 Personen, die 1940 aus Stettin deportiert wurden und unter verschiedenen Umständen überlebt haben. Uns fehlen jedoch Informationen darüber, wie und wann sie starben. Da sich auf der von Else Meyring erstellten Liste mit Deportierten keinerlei Vermerke neben ihren Namen befinden, gilt es als höchstwahrscheinlich, dass sie der „Aktion Reinhardt“ zum Opfer fielen und 1942 oder 1943 vom Ghetto direkt in eines der Todeslager kamen. Nach Bełżec, Sobibór oder Treblinka, vielleicht auch nach Majdanek oder Auschwitz II.

Beim Beschreiben dieser Ereignisse vermeide ich einen sachlich-wissenschaftlichen Ton und gehe nicht detailliert auf einzelne Etappen der Vernichtung der pommerschen Juden, deutscher Staatsbürger, ein. Nicht nur deshalb, weil zu diesem Thema bereits viel geschrieben wurde[8]. Ich will vielmehr auf einen Forschungsumstand hinweisen. Als Historiker durchforsten wir Archive und Bibliotheken, werten Dokumente und Bücher aus und versuchen uns dabei emotional zu distanzieren. Manchmal gestaltet sich dies jedoch schwierig, weil das Thema aufdringlich ist und dauerhaftes Unbehagen verursacht. Nicht aufgrund mangelnder Dokumente, sondern weil das Thema eine derart starke Wirkung entfaltet. Wir fangen an, uns mit ihm zu identifizieren, es durchdringt uns, insbesondere dann, wenn die Forschungsarbeit besonders tragischen Ereignissen gewidmet ist, in denen es um menschliches Leid, Demütigungen und Tod geht. Manchmal handelt es sich um Themen, die schlicht unfassbar sind, wie im Falle des Holocaust. So habe ich vermutlich schon seit Beginn meiner Forschungen über die Stettiner Deportation – ich befasse mich mit dem Thema bereits seit über fünf Jahren – eine zusätzliche Sphäre jenseits aller Erkenntnisaspekte gesucht, die mir nicht nur Einblick in die politische, statistische oder gesellschaftliche Dimension der Geschehnisse gewährt, sondern auch einen emotionalen Zugang ermöglichen würde.

Aus diesem Grund habe ich so viel über Gisela Edel und ihre Eltern geschrieben, wie auch über Lothar Baruch (Leslie Brent) und seine Familie. Mir scheint, dass in diesem Fall nicht nur die Erforschung des Mechanismus der Verbrechen wichtig ist, sondern auch der Blick auf die Individuen, um wenigstens einen Teil ihrer Subjektivität hervorzuheben, die ausgelöscht werden sollte. Dieser Zugang ist somit einerseits ein Protest gegen den Versuch, das Schicksal der Deportierten zu anonymisieren, zugleich aber auch ein Versuch der Begegnung, einer Beziehungsherstellung, was zwar unmöglich ist und stumm bleiben muss, aber, so scheint mir, notwendig ist, um das verstehen zu können, was 1940 und in den Folgejahren geschah. Es geht hier nicht um Erinnerung. Es geht um eine Geste.

3.   Projekt/Prozess, 2019–2022–?

„Alles begann in Niebuszewo“. Ich kehre zu diesem Satz zurück, um zu zeigen, wie wichtig der Aspekt des Raumes für das von Weronika Fibich und Natalia Szostak umgesetzte Projekt ist. Beide wohnen bzw. wohnten in diesem Stettiner Stadtteil, der seit der Nachkriegszeit mit Juden assoziiert wird. Hier siedelten sich nämlich ab 1945 Juden an, meist „Repatrianten“ aus der Sowjetunion oder Menschen, die den Holocaust überlebt hatten und zuvor meist aus den östlichen Gebieten Polens deportiert worden waren, aber auch Verfolgte, die während der deutschen Besatzung Angst um ihr Leben haben mussten. Als „Lejbuszewo“, in Anlehnung an den jiddischen Namen „Lejb“, wird der Stadtteil auch heute noch bezeichnet, obschon nur noch ganz selten, denn in den vergangenen Jahrzehnten hat der Bezirk seine jüdische Dimension verloren. Dies ist auf die einzelnen Auswanderungswellen zurückzuführen, vor allem aber auf das Jahr 1968 und die in der Volksrepublik Polen erfolgte antisemitische Kampagne, die insbesondere die jüngere Generation zur Emigration drängte. Jeder, der Kenntnis über die Geschichte des Stadtteils hat, wird dort jedoch ohne Schwierigkeiten jüdische Spuren finden.

Weronika Fibich erzählt gerne über ihre Begegnung mit Róża Jutkiewicz. Sie lernten sich in Hamburg während eines der vielen Projekte kennen, die die Künstlerin ansonsten meist im alternativen Theaterzentrum KANA in Stettin durchführt. Sie sprachen über die Vergangenheit, das jüdische Leben im Nachkriegspolen, Niebuszewo, das Exilleben und die Fliesen aus der Stettiner Wohnung, in der sie aufwuchs, die seit vielen Jahren immer wieder in ihren Träumen vorkommen. Auf einer der Fotografien, die die Frau ihr zeigte und die entstanden, als sie noch ein Kind war, hatte Weronika den charakteristischen Balkon ihrer eigenen Wohnung erkannt. Ein und derselbe Ort hat das Schicksal zweier Frauen miteinander verbunden, die bis zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben von der Existenz der anderen nichts wussten. Darin liegt etwas Außergewöhnliches, aber auch etwas völlig Zufälliges, das uns bewusst macht, dass die Vergangenheit anderer Menschen uns auf unerwartete Weise wichtig und nahe werden kann, und dass hierbei eigenes Handeln nicht immer vorausgehen muss. Es sollte aber eine gewisse Offenheit und Sensibilität dafür vorhanden sein, jemandem oder etwas zu begegnen, was anschließend Teil der eigensten Erfahrung werden kann.

Diese Art von Offenheit ist in den aufeinanderfolgenden Teilen des laufenden Projekts in vollem Umfang zu erkennen. Die Künstlerinnen begannen mit den Vorbereitungen im Jahr 2019, und das erste Ergebnis ihrer Arbeit war Die Übung vom 22. September 2020 und vier Eisblöcke, die an verschiedenen Orten in Niebuszewo aufgestellt wurden. Die Orte wurden nicht zufällig gewählt: Dort lebten einst einige der deportierten Menschen.

Bestimmte Adressen sollten an bestimmte Personen erinnern: Wilhelm Leske wohnte in der Dorotheenstraße 4 (ul. Świętej-Barbary 4); Max Lachmann wohnte in der Elysiumstraße 12b (ul. Juliana Ursyna Niemcewicza 12b); Flora Friedländer wohnte in der Stoewerstraße 14 (ul. Adama Naruszewicza 14); Betty Mannheim wohnte in der Heinrichstraße 21 (ul. Ofiar Oświęcimia 21) . Im Eis waren Briefe versteckt, die das Ehepaar Meyer aus dem Ghetto in Głusk verschickt hatte und die von den Künstlerinnen mit der Hand abgeschrieben wurden. Über Die Übung sagten die Künstlerinnen, es handle sich um einen „Versuch, anhand dessen überprüft werden sollte, wo und ob überhaupt eine zeitgenössische Erinnerung an die Deportation bestehe, was mit ihr geschieht und welche Rolle dabei wir, d.h. die heute lebenden Stettiner, dabei spielen“[9].

Das Projekt verband mehrere Ausdrucksformen miteinander, es war eine künstlerische und performative Aktion, eine Installation, eine Forschungserkundung und ein urbanes Spiel. Unter dem schmelzenden Eis sollten Informationen über die Vergangenheit zum Vorschein kommen, und die Blöcke selbst hinterließen eine sichtbare Spur, eine unbeständige zwar, aber auch Erinnerungen sind flüchtig. Über die Symbolik sagte Natalia Szostak: „Das Eis ist ein Zeichen für die Kälte, die sie umgab. Aber Eis ist auch Wasser, etwas Flüssiges, Unkontrollierbares, was nun statisch ist, stehen bleibt“[10]. Es fällt schwer, allgemeiner über die gesellschaftliche Dimension des Projekts zu sprechen, da bisher keine Untersuchungen zu diesem Thema durchgeführt wurden und wir nur Beobachtungen und Eindrücke aus Gesprächen haben. Es ist bekannt, dass die Passanten ein deutliches Zeichen im städtischen Raum wahrgenommen haben, ihre Reaktionen sind bekannt, wir wissen etwas darüber, wie jenes Symbol sich mit ihrer eigenen Sensibilität verflochten hat. Aber hat es das auch im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Deportation von 1940 und ihren Opfern? Hat der schmelzende Eisblock ihnen tatsächlich Auskunft über die Vergangenheit gegeben? Dessen kann man sich nicht sicher sein, denn das Ziel, das sich beide Künstlerinnen gesetzt haben, war äußerst ehrgeizig. Die heutigen Stettiner wissen nicht sehr viel über die Ereignisse aus der Kriegszeit, oftmals sogar gar nichts.

Als Folge der eindeutig nationalistisch und zentral gesteuerten polnischen Geschichtspolitik wird Stettin vor 1945 meist als wenn schon nicht fremder, so doch anonymer Raum wahrgenommen, und falls es doch irgendwelche Vorstellungen gibt, dann eher die einer „unbewohnten“ Stadt, ohne jeglichen persönlichen Kontext. Wie kommt es dazu? Aus dem gleichen Grund wie immer: Unsere Sprache und unser historisches Bewusstsein werden durch das geprägt und konserviert, was wir am besten kennen, und das ist oft einfach das Nationale.

Dies berücksichtigend, scheint die Erfahrung der Künstlerinnen für Die Übung eine zentrale Rolle zu spielen, denn beide haben sich in höchstem Maße aktiv mit dem Erinnern und Gedenken in der Praxis auseinandergesetzt. Geduldig durchforsteten sie Dokumente und entdeckten in ihnen menschliche Erfahrungen, Individualität, Gesichter, Handschriften, Wohnorte. Für Weronika und Natalia war die handschriftliche Transkription der Meyer-Briefe ein körperlicher Akt, der sowohl befreiend als auch schmerzhaft war und einen spezifischen Einblick in den kalten Raum gab, in dem sich das Ehepaar nach seiner Deportation befand, in seine Gefühle, Hoffnungen und Ängste. Es war gleichzeitig ein Initiationsmoment, der die Künstlerinnen für einen langfristigen Prozess öffnete, der sich in späteren künstlerischen Projekten fortsetzte. Das Charakteristische an dem Prozess ist eine gewisse Wiederholbarkeit von Gesten, Situationen, Artefakten, Pfaden und Metaphern. Es handelt sich jedoch nicht um eine mechanische Wiederholung, denn alle weiteren Etappen des Prozesses werden von neuen intellektuellen und emotionalen Impulsen hervorgerufen, die etwa durch die Lektüre von Emmanuel Lévinas, Hans Belting oder Winfried Georg Sebald angeregt werden[11]. Der Eisblock in Die Übung ist etwas anderes als in der Installation immer noch Schnee und Eis, die während einer Gruppenausstellung im Stettiner Zentrum für zeitgenössiche Kunst TRAFO zwischen Februar und Juni 2021 gezeigt wurde. Ähnliches gilt für die Reisen, die die Künstlerinnen während der Umsetzung von Experiment in Catastrophe im Februar 2021 und Januar 2022 in die Region Lublin unternommen haben, und auch für die Fotografien von Käthe und Martin Meyer, die in mehreren Varianten wiederkehren. Die Wiederholungen sind bezeichnend und weisen darauf hin, dass eine einmalige Geste nicht ausreicht, dass eine viel längere Arbeit erforderlich ist, deren Endpunkt jedoch nicht bestimmt werden kann. Es ist eine kontinuierliche Arbeit mit Erinnerungen, genauer gesagt: mit Erinnerungsorten und dem Platz für Erinnerung.

Obschon Natalias und Weronikas Projekte unter verschiedenen Titeln umgesetzt werden und dabei unterschiedliche Ausdrucksformen zum Einsatz kommen, bilden sie im Kern eine Einheit, und mithilfe einer bewussten Geste wird die Abwesenheit all jener vergegenwärtigt, die 1940 aus Stettin deportiert und im von Deutschland besetzten Polen ermordet wurden. Es handelt sich nicht um eine neue Geste, diese wird nämlich an vielen Orten praktiziert, an denen der Holocaust eine Leere hinterlassen hat. Sie ist mit künstlerischen und performativen Aktivitäten verschiedener Art verflochten. So finden wir die Vergegenwärtigung des Abwesenden etwa in dem von Daniel Libeskind entworfenen Jüdischen Museum in Berlin, in dem internationalen Projekt Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig, aber auch in den zahlreichen Aktionen in Polen, die der Kulturverein „Brama Grodzka – Teatr NN“ in Lublin veranstaltet[12]. Izabela Skórzyńska, eine Historikerin, die sich mit der Erinnerung an den Holocaust befasst, schrieb einmal in einem Beitrag, wie wichtig es für die Lubliner Kultureinrichtung ist, an das anzuknüpfen, was nicht mehr da ist und als unverarbeiteter Verlustakt empfunden wird, d.h. an den Verlust von Menschen, die dem Völkermord zum Opfer fielen, aber auch an die Städte, an denen ein Urbizid verübt wurde, wodurch auch alte Spuren jüdischen Lebens aus dem städtischen Raum gänzlich verschwunden sind. Dadurch empfänden nämlich all jene eine tiefe Verlustempfindung, die „den Schmerz der Nichtexistenz jüdischer Identität und die Verantwortung für diese Tatsache heute auf sich nehmen, ganz gleich wer sie sind“[13].

Die Vergegenwärtigung ist nicht eine einfache reproduktive Tätigkeit, es geht dabei auch nicht um den Versuch, „sich in einen Anderen hineinzuversetzen“, ein naiver „Psychologismus“ oder gar „Metaphysik“ sind hier fehl am Platze. Vielmehr müssen wir uns immer vor Augen halten, dass wir es mit einer performativen Handlung zu tun haben, die dem Betrachter einen enormen Interpretationsspielraum ermöglicht. Ihm ist es letztlich überlassen, die Fotografien und Filme von den Reisen der Künstlerinnen zu interpretieren, die Leere der Winterlandschaft, die gelbe Farbe, die oft in den Fotografien auftaucht, und Natalia Szostaks Worte zu deuten: „Das Blau des Himmels verdunkelte sich, als wir den leeren Linienbus nahmen. Ein paar Stationen weiter in der Głuska-Straße stiegen wir wieder aus. Wir bogen ein, zwischen die Häuser. Hinter ihnen endete die asphaltierte Straße und das Licht der Laternen. Plötzliche Dunkelheit. Offener Raum, das Knirschen des Schnees, das Weiß, die Umrisse des Geländes. Wir wenden uns dem Wald zu. Intakter, glatter Landstrich, Pulver, Stille. Da sind sie. Vier solide vertikale Platten. Überwuchert, bemoost. Direkt an der Straße, wie Wild am Straßenrand. Zu einer Einheit getarnt; stehengeblieben“[14].

Es hängt von der Sensibilität und Offenheit des Betrachters ab, ob er sich von den Suggestionen der Künstlerinnen leiten lässt. Mit anderen Worten: ob er dazu bereit ist, ihnen zu begegnen und an dem von ihnen initiierten Prozess teilzunehmen. Es liegt auch an ihm zu entscheiden, ob er oder sie ihnen bis zum Ende folgen will, denn es geht bei dem Prozess um die Teilnahme an etwas sehr Intimem, auch wenn der Betrachter sich immer noch auf einer performativen Ebene bewegt. Der erwähnte Verlustakt wäre vielleicht abgeschlossen, wären zwei mit dem Phänomen des Todes beständig einhergehende Rituale, nämlich Bestattung und Trauer, erfolgt, aber im Falle der meisten Holocaustopfer war dies nicht der Fall. Das Projekt von Natalia Szostak und Weronika Fibich kann daher als eine gewisse Trauervariante aufgefasst werden, als Ersatz, eine nicht explizit ausgesprochene Vollendung des Rituals, das denjenigen gewidmet ist, um die nicht getrauert wurde und deren Gräber nicht existieren.

Wenn die Trauer, wie die Psychologen sagen, der natürliche Beginn ist, die Toten zu vergessen, so soll der in Die Übung initiierte Prozess auch diesem Zweck dienen. Dies mag im Zusammenhang mit den zuvor genannten Aspekten der Vergegenwärtigung und der Erinnerung als paradox erscheinen, doch ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch. Es ist nicht erst seit heute bekannt, dass Erinnern und Vergessen miteinander verwoben sind und eine Schlüsselkategorie in der Wissenschaft über das individuelle und kollektive Gedächtnis bilden. Daher ist für beide Künstlerinnen bei ihrem Projekt die Frage so wichtig, die sie sich selbst und anknüpfend an Izabela Skórzyńska stellen: Wie kann das vergessen werden, was nicht vergessen werden kann?[15]

In Anlehnung an die für die Erinnerungskultur zentralen Kategorien sei auch darauf verwiesen, dass Weronika Fibichs und Natalia Szostaks Projekt sich in zeitgenössische Muster einreiht. Das Projekt stellt mit Sicherheit den Versuch dar, ein dialogisches Erinnern zu etablieren, das transnational ist und in dem es nicht zu einer Verschmelzung und Durchmischung von Erinnerungen kommt oder gar einer Vergemeinschaftung, sondern bei dem das Gespräch ein Schlüsselmoment ist, die Gegenseitigkeit bei der Bezugnahme auf verschiedene Standpunkte und die Fähigkeit, verschiedene Geschichtsbilder und damit verbundene Erfahrungen miteinander zu verknüpfen[16]. Für die Stettiner Künstlerinnen sind nationale Themen weniger wichtig, sie sprechen kaum darüber, dagegen schaffen sie aber zweifellos einen Raum für Begegnungen, die auf Gesprächen und dem Austausch von Erfahrungen beruhen, und diese können in verschiedenen Sprachen, Gesten und Traditionen verwurzelt sein.

Für das Verständnis der von den Künstlerinnen vorgeschlagenen Erinnerungspraktiken kann auch die Kategorie des vermittelten Gedächtnisses wichtig sein. Sicherlich kann hierbei aber nicht von Postmemory gesprochen werden, über das Marianne Hirsch schrieb. Es handelt sich nämlich nicht um Erinnerungen von Nachkommen der Deportierten, d.h. jener, die in einem Milieu aufgewachsen sind, das von Erzählungen über Zeiten vor ihrer Geburt geprägt war[17]. Von einem vermittelten Trauma kann hier also nicht die Rede sein. Dies ist eine andere Situation. Bemerkenswert an Hirschs Konzept ist jedoch der Hinweis, dass die zeitgenössische Beziehung zu einem Objekt oder einer Quelle nicht durch Erinnerungen, sondern durch Vorstellungskraft und Kunst vermittelt wird[18]. Dies erscheint mir zutreffend, denn der Verweis auf die Vorstellungskraft in dem Projekt/Prozess von Weronika Fibich und Natalia Szostak ist von fundamentaler Bedeutung. Diese wird durch Fotografien, Eisblöcke und die Briefe der Deportierten angeregt.

Eine interessante Variante des vermittelten Gedächtnisses ist die prothetische Erinnerung (prostethic memory), in der die Vorstellungskraft und künstlerisches Schaffen ebenfalls eine zentrale Rolle spielen[19]. Sie zeichnet sich aber auch noch durch einige andere Eigenschaften aus, die das Projekt der Künstlerinnen gut erfassen. Die Schöpferin des Begriffs, Alison Landsberg, erklärt, dass die prothetische „Erinnerung an der Schnittstelle zwischen einer Person und einem historischen Narrativ von der Vergangenheit, an einem experimentellen Ort wie einem Kino oder einem Museum auftritt. Im Moment des Kontakts entsteht eine Erfahrung, durch die die Person mit einer größeren Geschichte verschmilzt. [...] Dabei übernimmt die Person nicht nur ein bestimmtes historisches Narrativ, sondern auch eine persönlichere, tiefer empfundene Erinnerung an ein vergangenes Ereignis, das sie selbst nicht erlebt hat“[20]. Es muss hinzugefügt werden, dass sich die prothetische Erinnerung durch die Fähigkeit auszeichnet, „Empathie und soziale Verantwortung sowie politische Allianzen zu produzieren, die Rassen-, Klassen- und Geschlechtergrenzen transzendieren“[21].

4.   Abschluss. 12. Februar 2022

Es ist später Nachmittag, ein sehr arbeitsamer, zugleich herrscht nahezu Stillstand. Im Hintergrund läuft das Album Subaqueous Silence des Ayumi Tanaka Trios. Die Musik hat mich in den letzten Wochen beim Verfassen dieses Textes begleitet. Ich kann diese Verflechtung nicht näher erläutern. Sie hat sich ergeben. Sie ist da. Die Musik ist für mich keine akustische Versinnbildlichung, sie ist vielmehr eine Verlängerung, eine Ergänzung dessen, was Natalia und Weronika in ihrem Projekt/Prozess gemacht haben. Vielleicht liegt es an der Stille, die dabei so wesentlich ist? Oder vielleicht, weil sie eine verwandte Art der Intimität und Sensibilität in sich trägt? Vielleicht? Ich bin mir der Arroganz meiner Gedanken bewusst, denn ich ergänze von außen eigenmächtig ein originäres Konzept, dass von zwei Künstlerinnen ganz bewusst geschaffen wurde. Doch erinnere ich mich auch an ihre Anregung, um in dem, was sie machen, eigene Pfade zu finden, dass ihre Arbeit für „Entdeckungen“ offen sei und vielfältige Begegnungen ermögliche.

Ich denke stets darüber nach, ob ich Natalias und Weronikas Arbeit richtig verstanden habe, obwohl ich mir heute nicht mehr sicher bin, ob man diese Frage auf diese Weise stellen kann. Wichtiger sind aber vielleicht die Impulse, die mir ihre Arbeit gegeben hat, dank der ich wenn auch keine Gewissheit, so doch eine tiefe Überzeugung entwickelt habe, dass eine rein sachliche Überlieferung der Geschichte im Falle der Deportationen von 1940, vielleicht sogar hinsichtlich des Holocaust an sich, unzureichend, vielleicht gar unangebracht ist. Ich wünsche mir, dass das von den Stettiner Künstlerinnen initiierte Projekt/Prozess fortgesetzt wird. Und ich bin ihnen dankbar für die Begegnung, denn wir können nun gemeinsam darüber nachdenken, wie wir das erinnern und vergessen können, was nicht vergessen werden kann.

 



[1] Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964.

[2] B. Twardochleb, Gegen das Vergessen. Andrzej Kotula engagiert sich für eine europäische Erinnerungskultur in Stettin / Niezgoda na zapomnienie. Portret: Andrzej Kotula działa na rzecz europejskiej kultury pamięci w Szczecinie, „Dialog“ 2020, Nr. 133, S. 76–88.

[3] Götz Aly, Europa gegen die Juden 1880–1945, Frankfurt am Main 2017, S. 379.

[4] Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer, Frankfurt am Main 1992, S. 30.

[5] Helmut Müssener, Wolfgang Wilhelmus (Hg.): Stettin – Lublin – Stockholm. Elsa Meyring: Aus dem Leben einer deutschen Nichtarierin im zwanzigsten Jahrhundert, Rostock 2015, S.81.

[6] Wolfgang Wilhelmus, Flucht oder Tod. Erinnerungen und Briefe pommerscher Juden über die Zeit vor und nach 1945, Rostock 2001, S. 196.

[7] Ebd., S. 252.

[8] Vgl.u.a. Wolfgang Wilhelmus, Auf jeden Wagen kommt es an! Die Namensliste der 1940 aus dem Regierungsbezirk Stettin deportierten Juden, Rostock 2009; Helmut Müssener, Wolfgang Wilhelmus, Stettin – Lublin – Stockholm. Elsa Meyring: Aus dem Leben einer deutschen Nichtarierin im zwanzigsten Jahrhundert, Rostock 2015; Eryk Krasucki, Historia kręci drejdlem. Z dziejów (nie tylko) szczecińskich Żydów [Die Geschichte dreht am Dreidel. Zur Geschichte (nicht nur) der Stettiner Juden], Łódź 2018, S. 85–121.

[9] Aufnahme des Interviews von Agata Rokicka mit Weronika Fibich und Natalia Szostak, vgl. „Zachowani w kenkartach“ [Aufbewahrt in Kennkarten] – Reportage von Małgorzata Frymus, Polskie Radio Szczecin, 30.09.2020, Zugriff am: 15.02.2022, https://radioszczecin.pl/395,2663,zachowani-w-kenkartach-reportaz-malgorzaty-frymu.

[10] Artur Daniel Liskowacki, Policzalna nieobecność. Rozmowa z Weroniką Fibich i Natalią Szostak [Zählbare Abwesenheit. Gespräch mit Weronika Fibich und Natalia Szostak], „Kurier Szczeciński“, 22.09.2020, S. 6.

[11] Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/München 1993; Hans Belting, Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2002; Winfried Georg Sebald, Austerlitz, München 2001.

[12] Maria Popczyk, Berlin – miasto widzialnej nieobecności [Berlin – Stadt der sichtbaren Abwesenheit], in: Dylematy wielokulturowości [Dilemmata des Multikulturalismus], hrsg. v. Wojciech Kalaga, Kraków 2004, S. 239–261; Stolpersteine, Zugriff am: 15.02.2022, https://www.stolpersteine.eu; Monika Krzykała, Jak dbać o pamięć zdarzeń i dziedzictwo kulturowe? Ośrodek „Brama Grodzka – Teatr NN“ [Wie können die Erinnerung an Ereignisse und das kulturelle Erbe gepflegt werden? Kulturverein „Brama Grodzka – Teatr NN“], in: Wiedza (nie)umiejscowiona. Jak uczyć o Zagładzie w Polsce w XXI wieku? [(Un)verankertes Wissen. Wie kann im 21. Jahrhundert in Polen über den Holocaust gelehrt werden?], hrsg. v. K. Liszka, Kraków 2021, S. 207–229.

[13] Izabela Skórzyńska, Inscenizacje pamięci: misteria „nieobecności“ w Lublinie [Inszenierungen der Erinnerung: die Mysterien der „Abwesenheit“ in Lublin], in: Inscenizacje pamięci [Inszenierungen der Erinnerung], Hrsg. v. Izabela Skórzyńska, Christine Lavrence, Carl Pépin, Poznań 2007, S. 90.

[14] Natalia Szostak, Experiment in Catastrophe. Podróż śladami deportowanych mieszkańców Stettina w lutym 1940 r. [Experiment in Catastrophe. Auf den Spuren der im Februar 1940 deportierten Stettiner], „Uniwersyteckie Czasopismo Socjologiczne. Academic Journal of Sociology“ 2021, Nr. 28, H. 2, S. 21.

[15] Izabela Skórzyńska, Zapomnienie: gdzie jest i jak pracuje w kontekście historii i pamięci Zagłady [Das Vergessen: Wo es ist und wie es im Kontext der Geschichte und Erinnerung an den Holocaus funktioniert.], Zugriff am: 15.02.2022, https://www.youtube.com/watch?v=itNxbskJZpw.

[16] Aleida Assmann, Das gespaltene Gedächtnis Europas und das dialogische Konzept des Erinnerns. in: Zur Konkurrenz von Erinnerungskulturen in Deutschland, Frankreich und Polen. Kassel 2012, S.127–155; Luisa Passerini, Response on Borders, Conflict Zones, and Memory, „Women's History Review“ 2016, Nr. 3, S. 447–457.

[17] Vgl.: Marianne Hirsch, Żałoba i postpamięć [Trauer und Postmemory], in: Teoria wiedzy o przeszłości na tle współczesnej humanistyki [Wissenstheorie über die Vergangenheit im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Geisteswissenschaft], Hrsg. v. Ewa Domańska, Poznań 2010, S. 254.

[18] Ebd.

[19] Alison Landsberg, Prosthetic memory: the ethics and politics of memory in an age of mass culture, in: Memory and popular film, Hrsg. v. Paul Grainge, Manchester 2003, S. 144–161.

[20] Alison Landsberg, Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture, New York 2004, S. 20, Zitiert nach: Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, 2. aktualisierte Auflage, Stuttgart/Weimar 2011, S. 158. Hier: Übersetzung des englischen Originals [Prosthetic memory emerges at the interface of a Person and a historical narrative of the past, at an experiental site, such as a movie theatre or a museum. In this moment of contact, an experience occurs through which the person sutures himself or herself into a larger history (…) In the process the person does not simply apprehend a historical narrative but takes on a more personal, deeply felt memory of a past event through which he or she did not live.]

[21] Ebd.















Experiment in Catastrophe