|
|||||||||||||
Eryk
Krasucki, Begegnungen.
Über Weronika Fibichs und Natalia Szostaks
Projekt/Prozess
„Alles begann in Niebuszewo“ [Stettiner
Stadtteil, ehem.
Zabelsdorf], sagte Natalia, sagte Weronika. Diesen
Satz notierte ich mir mit
einem grünen Feinschreiber auf einem Zettel in
der Hoffnung, damit vielleicht
meine Erzählung beginnen zu können. Bis
Weihnachten waren es nur noch wenige
Tage, auf dem kleinen Tisch lagen bereits
Quarkbällchen, es roch nach Kaffee und
Hundefell. Natalias Atelier im Stettiner INKU, dem
sogenannten
Kulturbrutkasten, ist geräumig und hell. Mein
Blick wird von einem Polyptychon
angezogen, er zeigt die Eltern der Künstlerin,
ihren Bruder und sie selbst. Ich schaute jedoch nur
diskret hin, verunsichert durch
die realistische und intime Darstellung. Daneben an
den Wänden Sceny leśne [Waldszenen],
ältere
und neuere Werke, einige Bücher. Während
unseres letzten Treffens lagen auf dem Boden bereits
entwickelte Fotografien
für die Greifswalder Ausstellung:
Porträtfotos von Käthe und Martin Meyer
aus
der Fotoreihe „Sara & Israel“.
Heute sind sie nicht mehr da, und doch sind sie es.
Wir reden über sie, denn
sie sind Teil eines großen Projekts von
Weronika Fibich und Natalia Szostak.
Der erste Part trug den Titel Die Übung,
der zweite immer
noch Schnee und Eis,
derzeit hat das Projekt den Namen Experiment
in Catastrophe angenommen. In zwei Fällen knüpfen die
Projekttitel an Hannah Arendt
und ihre präzise wie auch kontroverse Reflexion
an[1]. Beide beziehen sich
auf deutsche Juden aus
dem Regierungsbezirk Stettin, die im Februar 1940 in
das besetzte Polen
deportiert und dort ermordet wurden. Ich will das Werk
der Künstlerinnen
verstehen, mich mit ihrer Sensibilität, die sich
von meiner unterscheidet, und ihrer
Kommunikationssprache auseinandersetzen. Zunächst
wende ich mich krampfhaft dem
zu, was mir vertraut erscheint. Deshalb bin ich so
begierig darauf, etwas über
Niebuszewo zu erfahren, Informationen über
vertraute Straßen und Hinweise auf
die Vergangenheit zu erhalten, die ich einmal aus der
Sicht eines Historikers
beschrieben habe. Schüchtern betrete ich dieses Terrain.
Ich bin auf der
Suche nach einem Sinn, habe Angst vor allzu forschen
Urteilen und falschen
Fährten, aber Natalia und Weronika ermutigen
mich, diese Angst loszulassen,
weil sie Wert auf meine Interpretation legen. Warum?
Sie glauben, dass ich Teil
des Projekts bin, als Wissenschaftler, aber auch als
Rezipient, als jemand, der
vielleicht nicht jeden Tag, aber immerhin oft durch
die Straßen von Stettin
spazieren geht, in denen Erinnerungen an die Schritte
seiner einstigen Bewohner
aufbewahrt sind, entlang der Gebäude, in denen
sie gelebt haben. Natürlich ist Stettin heute eine andere
Stadt, doch wurde
sie nicht komplett neu aufgebaut. Nach dem Zweiten
Weltkrieg haben wir Polen
sie neu besiedelt, obschon sie stark zerstört
war, wir haben es uns in fremden
Wohnungen bequem gemacht, uns mit der Zeit an die von
den Deutschen
zurückgelassenen Gegenstände gewöhnt.
Einige davon gehörten deutschen Juden,
aber diese hat man vollkommen vergessen. Man sprach
ausschließlich von
„Deutschen“, „Szwaby“, „Nazis“ und von „ehemals
deutschen Sachen“. Es fehlte an
jeglichem Bewusstsein dafür, dass der genozidalen
Todeswalze auch in diesem
Teil Europas gerade jene zum Opfer gefallen sind, die
in der Sprache Goethes
und Döblins sprachen und sich oftmals hundertfach
stärker als deren Erben
ansahen als etwa von
greisen Rabbinern. Uns fehlte es an Vorstellungskraft, um dies
zu verstehen.
Vielleicht haben wir uns mit dem eindimensionalen Bild
einfach abgefunden,
vielleicht ging es damals gar nicht anders. Es mag
sein, dass es für eine
breitere Perspektive auch zu früh war. Erst nach
Jahren konnte dank der
Entschlossenheit und beharrlichen Arbeit solcher
Menschen wie etwa des
Journalisten und Aktivisten Andrzej Kotula die
Stettiner Geschichte des Jahres
1940 in das Narrativ über die Stadt und Region
entsprechend eingebettet werden[2]. Wir haben sie nun
als wichtig anerkannt,
sie muss gepflegt werden, und das hat zur Folge, dass
wir uns darum bemühen,
ihr einen Platz im kollektiven Gedächtnis
einzuräumen. Dies ist kein leichtes
Unterfangen. Als Motiv rückte
das Schicksal der pommerschen Juden auch
in den Fokus der Kunst. Es interessiert mich,
weshalb sich zwei Künstlerinnen
an der Schwelle des 2. zum 3. Jahrzehnts des 21.
Jahrhunderts diesem Thema
zuwenden und welche emotionalen und intellektuellen
Quellen ihrer Arbeit
zugrunde liegen. Auch die Frage, wohin das alles
führen soll, scheint nicht
unwichtig zu sein. Die Antworten darauf suche ich in
Anlehnung an das, was ich
weiß, was ich erfahren habe, aber auch an das,
was unausgesprochen bleibt. Denn
die Stille ist in dem hier beschriebenen Kunstwerk
in ergreifender Weise
anwesend, als Tatsache und als Verweis. 2. Die
Deportation der
Juden aus dem Regierungsbezirk Stettin, 12.-13.
Februar 1940 Das Projekt verweist auf ein konkretes
Ereignis, obschon
ich mir nicht sicher bin, ob das Verb „verweisen“ an
dieser Stelle richtig ist.
Vielleicht wäre es wahrheitsgetreuer zu
schreiben, dass das Projekt in der
Situation und den menschlichen Emotionen verwurzelt
ist, die durch die in der
Nacht vom 12. zum 13. Februar 1940 erfolgte
Deportation ausgelöst wurden. Die
Jahre davor waren von mühseliger Arbeit auf der
einen und von Leid auf der
anderen Seite geprägt. Die Arbeit bestand darin,
Ekel gegenüber bestimmten
Menschen zu erregen. Um dies zu erreichen, waren Ideen
hilfreich. Diese waren
einerseits widerwärtig, wie der Rassismus und
Antisemitismus, an andere glauben
hingegen viele bis heute, etwa an Modernisierung,
Demokratie, soziale
Gleichheit. Denn entgegen dem, was wir heute oft zu
glauben bereit
sind, entsteht „[d]as Böse […] nicht allein aus
dem Bösen, sondern aus dem
prinzipiell Guten“[3]. Dieser Satz stammt
vom herausragenden Kenner
des Nationalsozialismus, dem Historiker Götz Aly,
der auf überzeugende Weise
darlegt, wie der gesellschaftliche Aufstieg ganzer
Massen, der im Zuge der im
19. Jahrhundert erfolgten Umbrüche einsetzte und
oftmals mit Stress,
Unsicherheit und Enttäuschungen einherging, den
Antisemitismus stark befördert
hat. Aly erläutert auch, dass dieser Prozess
angesichts der in den 1930er und
1940er Jahren in Deutschland herrschenden
Umstände zu einem in seinem Ausmaß
beispiellosen Verbrechen beigetragen hat, das den
Schlussakkord des
Zivilisationsbruches darstellte. Das Wort „Arbeit“ mag
in diesem Zusammenhang
als unangebracht erachtet werden, aber wenn man genau
hinhört, was Adolf
Eichmann während seines Prozesses in Jerusalem zu
sagen hatte, so wird
ersichtlich, welch große Anstrengungen, die sich
hinter diversen Zahlen und
organisatorischen Entscheidungen verbergen, damals
unternommen, wie viele
Bahngleise umgestellt, Menschen aus ihren Häusern
vertrieben wurden, wie
Menschen anderen ihr Hab und Gut wegnahmen, letztlich
auch, wie Menschen andere
Menschen ermordeten. Ähnlich
verhielt es sich mit der Deportation im Jahr
1940, der mehrjährige Vorbereitungen und eine
Reihe bewusst getroffener
Entscheidungen vorausgingen. Diese wurden
mühselig erarbeitet und systematisch
finanziert. Sie waren anfangs nicht unmittelbar auf
die Vernichtung der Juden
ausgerichtet. Denn die „Endlösung der Judenfrage“
war ein fürchterlicher
Prozess, in dem Möglichkeiten und
Unwägbarkeiten aufeinandertrafen. Die
„Endlösung“ wurde anfangs unter dem Deckmantel
der Politik und des Rechts
umgesetzt, mit der Zeit unterlagen beide Sphären
des öffentlichen Lebens einer
Degeneration, am Ende auch deren Vollstrecker. Das
Finale war der Tod in den
Ghettos, Hinrichtungen in Wäldern, Todesgruben,
Auschwitz, Bełżec, Treblinka
und anderen Orten, an denen in bis dahin ungekanntem
Ausmaß gemordet wurde. Der
große Holocaust-Forscher und Historiker Raul
Hilberg schrieb einmal, dass
dieser Prozess einer „inneren Logik folgte, aber sogar
für die Täter selbst nicht
absehbar war. Ursprünglich lag er jenseits von
Rationalität und Irrationalität“[4]. Dieser Prozess wurde vom Leid jener
begleitet, die
sukzessiv ihrer Menschlichkeit beraubt wurden. Er
verlief in ganz Deutschland
auf ähnliche Weise, daher war das Schicksal der
pommerschen Juden keine
Ausnahme. Es begann damit, dass Juden in bestimmten
Behörden nicht mehr
arbeiten durften (1933), dann folgte die rechtliche
Diskriminierung durch die
sogenannten Nürnberger Gesetze (1935),
schließlich ging man zur symbolischen und
tatsächlichen Gewalt über, was während
der „Reichspogromnacht“ am 9. und 10.
November 1938 auf brutale Art vor Augen geführt
wurde. Dieses Vorgehen wurde
von der Vertreibung von Juden aus dem Reich begleitet,
die keine deutschen
Staatsbürger waren (1938) sowie von permanenter
„Überzeugungsarbeit“ zur
Auswanderung auch jener, die deutsche
Staatsbürger waren. All dies war
maßgeblich auch dadurch motiviert, dass man den
Löwenanteil jüdischen Eigentums
übernehmen wollte, denn Ideologie hin oder her,
der wirtschaftliche Faktor
spielte eine große Rolle, zumal es Deutschland
an Devisen mangelte. Am Ende kam
es schließlich zur Deportation. Diese bleibt bis heute
für die Wissenschaft ein Rätsel.
Ihre Absicht erschließt sich anhand der
Planungen, der anvisierten wie auch
tatsächlich umgesetzten, und doch bleiben
Fragen offen. Die pommerschen Juden
waren die erste Gruppe deutscher Staatsbürger
auf dem Gebiet des „Altreiches“,
die in solch großer Zahl (ca. 1.100 Personen)
ohne jegliche Rechtsgrundlage und
unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen
aus Deutschland deportiert wurden.
Wieso kam es dazu? Um das zu „versuchen“, was im
darauffolgenden Jahr – denn
Massendeportationen von deutschen Juden sollten im
Herbst 1941 erfolgen –
allumfassend durchgeführt werden sollte?
Handelte es sich vielleicht um ein
Experiment, anhand dessen geprüft werden
sollte, ob die Welt gegen die
Vertreibung von Menschen aus ihren Wohnungen
protestieren würde? Oder sollte
die schändliche Bestrebung von Gauleiter Franz
Schwede-Coburg verwirklicht
werden, der die Provinz Pommern als erste
„judenfrei“ machen wollte? Es konnten
auch ganz banale wirtschaftlich-organisatorische
Gründe ausschlaggebend sein:
Vielleicht wollte man einfach nur Platz für
Deutsche aus den baltischen Ländern
schaffen, die in das „Altreich“ „umgesiedelt“
wurden, um in der Schwerindustrie
zu arbeiten. Hierfür gibt es gewichtige
Argumente. Ohne eine vollumfassende
Dokumentation können an dieser Stelle aber nur
mehr oder weniger plausible
Vermutungen angestellt werden. Für jene, die
aus ihren Wohnungen in Stettin,
Stargard, Greifswald oder Stralsund verjagt wurden,
spielte all das sicherlich
keine Rolle. Sie waren es, die mit einer
unerwarteten wie ausweglosen Situation
konfrontiert wurden. Schockierend ist der Duktus der Anweisungen
für die
Funktionäre der NSDAP, SA und Gestapo, die
unmittelbar mit der Ausweisung der
Juden aus ihren Wohnungen betraut waren. Es wurde
bewusst eine kühle und
pragmatische Sprache gewählt, denn es ging darum,
das Gefühl zu vermitteln, man
nähme an einem gewöhnlichen Vorgang teil,
würde eine normale Arbeitsaufgabe
wahrnehmen. Wesentlich ist hierbei der technische
Aspekt der Anweisungen, man
sollte alles ordnungsgemäß, mit „Sorgfalt
und Umsicht“[5] erledigen: die
Unterlagen sauber und
leserlich ausfüllen, den Ofen ausmachen, das
Besteck, den Schmuck und das
Bargeld genaustens zählen. Und das Wichtigste:
Alles sollte im Stillen
geschehen, Ruhe bewahrt werden, bloß keinen
Lärm machen, um nicht die Nachbarn
zu wecken. Ruhe ist eine wichtige Kategorie für
die in dieser Nacht
durchgeführte Arbeit. Es verblüfft, wie die
Revolution, die im Namen
nationalsozialistischer Grundsätze umgesetzt
werden sollte, in einem ihrer
wesentlichen Bereiche geradezu klammheimlich verlaufen
sollte. Natürlich wurde
überall die halsschreierische antijüdische
Propaganda wahrgenommen, aber das
Wesentliche wurde still und leise gemacht. Eine
„lautlose Revolution“ mag als
Oxymoron belächelt werden, denn was ist schon
eine Revolution, von der niemand
etwas hört? Hier gibt es aber nichts zu lachen,
es überkommt einen ein
Schaudern. Wie
können die abendlichen Besuche vom 12. und 13.
Februar 1940 beschrieben werden? In einem Bericht
erwähnt Dr. Erich Mosbach aus
Stettin die Gestapofunktionäre, die seine Wohnung
aufsuchten und deren Räumung
befahlen. „[F]reundlich wie die Herren waren, wollten
sie uns Gelegenheit
geben, diesen Befehl ausführen zu können“[6], charakterisiert er
jene, die ihn aus seiner
Wohnung vertrieben, ihm erlaubten, einen Koffer
mitzunehmen und ihn
anschließend zusammen mit seiner Frau und
Tochter zum Güterbahnhof
eskortierten, ihn dort in einen Zug steckten, in dem
er mehrere Stunden ohne
Wasser und mit nur trockenem Brot verbrachte, und
die dann den Befehl gaben,
ihn einige hundert Kilometer gen Osten nach Lublin,
in das besetzte Polen zu
deportieren. Unterwegs konnte Dr. Mosbach durstige,
durchgefrorene und
sterbende Menschen erblicken, erniedrigte und
entsetzte Menschen, die sich an
jeden auch noch so winzigen Hoffnungsschimmer
klammerten in dem Glauben, dass
das, was mit ihnen geschah, letztlich ein gutes Ende
nehmen würde. Zweifelsfrei
ist seine Beschreibung des Auftritts der
Gestapofunktionäre ironisch gemeint.
Ich bin jedoch nicht der Ansicht, dass Ironie eine
gute Erzählstrategie ist.
Vielleicht ist dem aber so, doch nur im Kontrast zu
dem, was Jahre später
Manfred Heymann berichtete, der damals 11 Jahre alt
war und an erster Stelle
von Angst sprach. Als Kontrapunkt für den von
Dr. Mosbach gebrauchten Begriff
kann das Bild von zwei 90-jährigen Menschen
eines Pflegeheims dienen, die auf
Tragen hinausgebracht und direkt zum Bahnhof
gebracht wurden. Die Ruhe war
trügerisch. Wie sah die besagte Nacht bei den eingangs
erwähnten
Meyers aus? Waren die unangekündigten Gäste
Käthe und Martin gegenüber, die am
Augustaplatz 3 (heute Plac Lotników) wohnten,
gleichfalls „charmant“? Dies war
und wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.
Dazu gibt es keine Dokumente.
Aber was wissen wir über beide selbst? Nicht
viel, nur das, was wir den im
Stettiner Staatsarchiv aufbewahrten Kennkarten
entnehmen können. Diese sind
oftmals der einzige Nachweis über die Existenz
jener, die 1940 deportiert
wurden und gestorben sind bzw. einige Zeit später
ermordet wurden. Käthe war 60
Jahre alt, hatte graue Haare und einen
schüchternen Blick. Martin, acht Jahre
älter als seine Frau, war Arzt und trug einen
sauber zurechtgestutzten Bart.
Man merkt, dass er sein Äußeres gut
pflegte. Wir
wissen auch, was beide selbst über sich
geschrieben
haben, nachdem sie in das Gebiet des
Generalgouvernements deportiert wurden.
Sie wurden in das Ghetto in Głusk (bei Lublin)
gebracht, von wo aus sie Briefe
an ihre Freunde in den Niederlanden und in Schweden
schickten. Es besteht kein
Zweifel daran, dass sie ihre Korrespondenz selbst
zensierten, andernfalls
hätten sie die Empfänger nie erreichen
können. In ihren Briefen drücken sie
ihre Sehnsucht nach vergangenen, ruhigeren Zeiten
sowie ihre Freude über ganz
alltägliche Dinge aus (die sie manchmal
erhielten, manchmal nicht), etwa
Päckchen mit Erfrischungen und Seife, oder sie
schwelgten in Erinnerungen an
Botticellis Gemälde, Spaziergänge am
Vorabend des Frühlings, an die sie sich
nostalgisch erinnerten, um auf diese Weise deutlich
mitzuteilen, dass sie noch
tatsächlich existierten. Die Briefe enthalten
auch Informationen über das Leid,
sie sind geprägt von Dunkelheit, dem Schweigen
der Welt, Hunger, erfrorenen
Füßen. In einem Brief schreibt Martin:
„Sie, lieber Herr Magnus, beneide ich um
Ihre geistige Elastizität, mit der Sie noch Ihre
Sprachstudien treiben, mir
fehlt in unserer Lage die seelische Ruhe und
Spannkraft der Nerven dazu, und
was ich früher einmal gekonnt habe, ist
großenteils wieder vergessen, kaum daß
es zum Lesen eines ordentlichen Buches ausreicht“[7]. Mit nahezu absoluter Gewissheit kann
festgestellt werden,
dass Käthe und Martin den Krieg nicht
überlebt haben, sie befinden sich nicht
unter den mit Vor- und Nachnamen bekannten 17
Personen, die 1940 aus Stettin
deportiert wurden und unter verschiedenen
Umständen überlebt haben. Uns fehlen
jedoch Informationen darüber, wie und wann sie
starben. Da sich auf der von
Else Meyring erstellten Liste mit Deportierten
keinerlei Vermerke neben ihren
Namen befinden, gilt es als höchstwahrscheinlich,
dass sie der „Aktion
Reinhardt“ zum Opfer fielen und 1942 oder 1943 vom
Ghetto direkt in eines der
Todeslager kamen. Nach Bełżec, Sobibór oder
Treblinka, vielleicht auch nach
Majdanek oder Auschwitz II. Beim Beschreiben dieser Ereignisse vermeide
ich einen
sachlich-wissenschaftlichen Ton und gehe nicht
detailliert auf einzelne Etappen
der Vernichtung der pommerschen Juden, deutscher
Staatsbürger, ein. Nicht nur
deshalb, weil zu diesem Thema bereits viel geschrieben
wurde[8]. Ich will vielmehr
auf einen
Forschungsumstand hinweisen. Als Historiker
durchforsten wir Archive und
Bibliotheken, werten Dokumente und Bücher aus und
versuchen uns dabei emotional
zu distanzieren. Manchmal gestaltet sich dies jedoch
schwierig, weil das Thema
aufdringlich ist und dauerhaftes Unbehagen verursacht.
Nicht aufgrund
mangelnder Dokumente, sondern weil das Thema eine
derart starke Wirkung
entfaltet. Wir fangen an, uns mit ihm zu
identifizieren, es durchdringt uns,
insbesondere dann, wenn die Forschungsarbeit besonders
tragischen Ereignissen
gewidmet ist, in denen es um menschliches Leid,
Demütigungen und Tod geht.
Manchmal handelt es sich um Themen, die schlicht
unfassbar sind, wie im Falle
des Holocaust. So habe ich vermutlich schon seit
Beginn meiner Forschungen über
die Stettiner Deportation – ich befasse mich mit dem
Thema bereits seit über
fünf Jahren – eine zusätzliche Sphäre
jenseits aller Erkenntnisaspekte gesucht,
die mir nicht nur Einblick in die politische,
statistische oder
gesellschaftliche Dimension der Geschehnisse
gewährt, sondern auch einen
emotionalen Zugang ermöglichen würde. Aus diesem Grund habe
ich so viel über Gisela Edel und
ihre Eltern geschrieben, wie auch über Lothar
Baruch (Leslie Brent) und seine
Familie. Mir scheint, dass in diesem Fall nicht nur
die Erforschung des
Mechanismus der Verbrechen wichtig ist, sondern auch
der Blick auf die
Individuen, um wenigstens einen Teil ihrer
Subjektivität hervorzuheben, die
ausgelöscht werden sollte. Dieser Zugang ist
somit einerseits ein Protest gegen
den Versuch, das Schicksal der Deportierten zu
anonymisieren, zugleich aber
auch ein Versuch der Begegnung, einer
Beziehungsherstellung, was zwar unmöglich
ist und stumm bleiben muss, aber, so scheint mir,
notwendig ist, um das
verstehen zu können, was 1940 und in den
Folgejahren geschah. Es geht hier
nicht um Erinnerung. Es geht um eine Geste. 3.
Projekt/Prozess, 2019–2022–? „Alles begann in Niebuszewo“. Ich kehre zu
diesem Satz
zurück, um zu zeigen, wie wichtig der Aspekt des
Raumes für das von Weronika
Fibich und Natalia Szostak umgesetzte Projekt ist.
Beide wohnen bzw. wohnten in
diesem Stettiner Stadtteil, der seit der
Nachkriegszeit mit Juden assoziiert
wird. Hier siedelten sich nämlich ab 1945 Juden
an, meist „Repatrianten“ aus
der Sowjetunion oder Menschen, die den Holocaust
überlebt hatten und zuvor
meist aus den östlichen Gebieten Polens
deportiert worden waren, aber auch
Verfolgte, die während der deutschen Besatzung
Angst um ihr Leben haben
mussten. Als „Lejbuszewo“, in Anlehnung an den
jiddischen Namen „Lejb“, wird
der Stadtteil auch heute noch bezeichnet, obschon nur
noch ganz selten, denn in
den vergangenen Jahrzehnten hat der Bezirk seine
jüdische Dimension verloren.
Dies ist auf die einzelnen Auswanderungswellen
zurückzuführen, vor allem aber
auf das Jahr 1968 und die in der Volksrepublik Polen
erfolgte antisemitische
Kampagne, die insbesondere die jüngere Generation
zur Emigration drängte.
Jeder, der Kenntnis über die Geschichte des
Stadtteils hat, wird dort jedoch
ohne Schwierigkeiten jüdische Spuren finden. Weronika Fibich erzählt gerne über
ihre Begegnung mit
Róża Jutkiewicz. Sie lernten sich in Hamburg
während eines der vielen Projekte
kennen, die die Künstlerin ansonsten meist im
alternativen Theaterzentrum KANA
in Stettin durchführt. Sie sprachen über die
Vergangenheit, das jüdische Leben
im Nachkriegspolen, Niebuszewo, das Exilleben und die
Fliesen aus der Stettiner
Wohnung, in der sie aufwuchs, die seit vielen Jahren
immer wieder in ihren
Träumen vorkommen. Auf einer der Fotografien, die
die Frau ihr zeigte und die
entstanden, als sie noch ein Kind war, hatte Weronika
den charakteristischen
Balkon ihrer eigenen Wohnung erkannt. Ein und derselbe
Ort hat das Schicksal
zweier Frauen miteinander verbunden, die bis zu diesem
Zeitpunkt in ihrem Leben
von der Existenz der anderen nichts wussten. Darin
liegt etwas
Außergewöhnliches, aber auch etwas
völlig Zufälliges, das uns bewusst macht,
dass die Vergangenheit anderer Menschen uns auf
unerwartete Weise wichtig und
nahe werden kann, und dass hierbei eigenes Handeln
nicht immer vorausgehen
muss. Es sollte aber eine gewisse Offenheit und
Sensibilität dafür vorhanden
sein, jemandem oder etwas zu begegnen, was
anschließend Teil der eigensten
Erfahrung werden kann. Diese Art von Offenheit ist in den
aufeinanderfolgenden
Teilen des laufenden Projekts in vollem Umfang zu
erkennen. Die Künstlerinnen
begannen mit den Vorbereitungen im Jahr 2019, und das
erste Ergebnis ihrer
Arbeit war Die
Übung vom 22.
September 2020 und vier Eisblöcke, die an
verschiedenen Orten in Niebuszewo
aufgestellt wurden. Die Orte wurden nicht
zufällig gewählt: Dort lebten einst
einige der deportierten Menschen. Bestimmte Adressen sollten an bestimmte
Personen
erinnern: Wilhelm Leske wohnte in der
Dorotheenstraße 4 (ul. Świętej-Barbary
4); Max Lachmann wohnte in der Elysiumstraße 12b
(ul. Juliana Ursyna
Niemcewicza 12b); Flora Friedländer wohnte in der
Stoewerstraße 14 (ul. Adama
Naruszewicza 14); Betty Mannheim wohnte in der
Heinrichstraße 21 (ul. Ofiar
Oświęcimia 21) . Im Eis waren Briefe versteckt, die
das Ehepaar Meyer aus dem
Ghetto in Głusk verschickt hatte und die von den
Künstlerinnen mit der Hand
abgeschrieben wurden. Über Die Übung sagten
die
Künstlerinnen, es handle sich um einen „Versuch,
anhand dessen überprüft
werden sollte, wo und ob überhaupt eine
zeitgenössische Erinnerung an die
Deportation bestehe, was mit ihr geschieht und welche
Rolle dabei wir, d.h. die
heute lebenden Stettiner, dabei spielen“[9]. Das Projekt verband mehrere Ausdrucksformen
miteinander,
es war eine künstlerische und performative
Aktion, eine Installation, eine
Forschungserkundung und ein urbanes Spiel. Unter dem
schmelzenden Eis sollten
Informationen über die Vergangenheit zum
Vorschein kommen, und die Blöcke
selbst hinterließen eine sichtbare Spur, eine
unbeständige zwar, aber auch
Erinnerungen sind flüchtig. Über die
Symbolik sagte Natalia Szostak: „Das Eis
ist ein Zeichen für die Kälte, die sie
umgab. Aber Eis ist auch Wasser, etwas
Flüssiges, Unkontrollierbares, was nun statisch
ist, stehen bleibt“[10]. Es fällt
schwer, allgemeiner über die
gesellschaftliche Dimension des Projekts zu sprechen,
da bisher keine
Untersuchungen zu diesem Thema durchgeführt
wurden und wir nur Beobachtungen
und Eindrücke aus Gesprächen haben. Es ist
bekannt, dass die Passanten ein
deutliches Zeichen im städtischen Raum
wahrgenommen haben, ihre Reaktionen sind
bekannt, wir wissen etwas darüber, wie jenes
Symbol sich mit ihrer eigenen
Sensibilität verflochten hat. Aber hat es das
auch im Zusammenhang mit der
Erinnerung an die Deportation von 1940 und ihren
Opfern? Hat der schmelzende
Eisblock ihnen tatsächlich Auskunft über die
Vergangenheit gegeben? Dessen kann
man sich nicht sicher sein, denn das Ziel, das sich
beide Künstlerinnen gesetzt
haben, war äußerst ehrgeizig. Die heutigen
Stettiner wissen nicht sehr viel
über die Ereignisse aus der Kriegszeit, oftmals
sogar gar nichts. Als Folge der eindeutig nationalistisch und
zentral
gesteuerten polnischen Geschichtspolitik wird Stettin
vor 1945 meist als wenn
schon nicht fremder, so doch anonymer Raum
wahrgenommen, und falls es doch
irgendwelche Vorstellungen gibt, dann eher die einer
„unbewohnten“ Stadt, ohne
jeglichen persönlichen Kontext. Wie kommt es
dazu? Aus dem gleichen Grund wie
immer: Unsere Sprache und unser historisches
Bewusstsein werden durch das
geprägt und konserviert, was wir am besten
kennen, und das ist oft einfach das
Nationale. Dies berücksichtigend, scheint die
Erfahrung der
Künstlerinnen für Die Übung
eine
zentrale Rolle zu spielen, denn beide haben sich in
höchstem Maße aktiv mit dem
Erinnern und Gedenken in der Praxis
auseinandergesetzt. Geduldig durchforsteten
sie Dokumente und entdeckten in ihnen menschliche
Erfahrungen, Individualität,
Gesichter, Handschriften, Wohnorte. Für Weronika
und Natalia war die
handschriftliche Transkription der Meyer-Briefe ein
körperlicher Akt, der
sowohl befreiend als auch schmerzhaft war und einen
spezifischen Einblick in
den kalten Raum gab, in dem sich das Ehepaar nach
seiner Deportation befand, in
seine Gefühle, Hoffnungen und Ängste. Es war
gleichzeitig ein
Initiationsmoment, der die Künstlerinnen für
einen langfristigen Prozess
öffnete, der sich in späteren
künstlerischen Projekten fortsetzte. Das
Charakteristische an dem Prozess ist eine gewisse
Wiederholbarkeit von Gesten,
Situationen, Artefakten, Pfaden und Metaphern. Es
handelt sich jedoch nicht um
eine mechanische Wiederholung, denn alle weiteren
Etappen des Prozesses werden
von neuen intellektuellen und emotionalen Impulsen
hervorgerufen, die etwa
durch die Lektüre von Emmanuel Lévinas,
Hans Belting oder Winfried Georg Sebald
angeregt werden[11]. Der Eisblock in Die Übung ist etwas anderes als in
der Installation immer noch Schnee
und Eis, die während
einer Gruppenausstellung im Stettiner Zentrum für
zeitgenössiche Kunst TRAFO
zwischen Februar und Juni 2021 gezeigt wurde.
Ähnliches gilt für die Reisen,
die die Künstlerinnen während der Umsetzung
von Experiment in Catastrophe im Februar
2021 und Januar 2022 in die
Region Lublin unternommen haben, und auch für die
Fotografien von Käthe und
Martin Meyer, die in mehreren Varianten wiederkehren.
Die Wiederholungen sind
bezeichnend und weisen darauf hin, dass eine einmalige
Geste nicht ausreicht,
dass eine viel längere Arbeit erforderlich ist,
deren Endpunkt jedoch nicht
bestimmt werden kann. Es ist eine kontinuierliche
Arbeit mit Erinnerungen,
genauer gesagt: mit Erinnerungsorten und dem Platz
für Erinnerung. Obschon Natalias und Weronikas Projekte
unter
verschiedenen Titeln umgesetzt werden und dabei
unterschiedliche
Ausdrucksformen zum Einsatz kommen, bilden sie im Kern
eine Einheit, und
mithilfe einer bewussten Geste wird die Abwesenheit
all jener vergegenwärtigt,
die 1940 aus Stettin deportiert und im von Deutschland
besetzten Polen ermordet
wurden. Es handelt sich nicht um eine neue Geste,
diese wird nämlich an vielen
Orten praktiziert, an denen der Holocaust eine Leere
hinterlassen hat. Sie ist
mit künstlerischen und performativen
Aktivitäten verschiedener Art verflochten.
So finden wir die Vergegenwärtigung des
Abwesenden etwa in dem von Daniel
Libeskind entworfenen Jüdischen Museum in Berlin,
in dem internationalen Projekt
Stolpersteine des
Künstlers Gunter
Demnig, aber auch in den zahlreichen Aktionen in
Polen, die der Kulturverein
„Brama Grodzka – Teatr NN“ in Lublin veranstaltet[12]. Izabela
Skórzyńska, eine Historikerin, die
sich mit der Erinnerung an den Holocaust befasst,
schrieb einmal in einem
Beitrag, wie wichtig es für die Lubliner
Kultureinrichtung ist, an das
anzuknüpfen, was nicht mehr da ist und als
unverarbeiteter Verlustakt empfunden
wird, d.h. an den Verlust von Menschen, die dem
Völkermord zum Opfer fielen,
aber auch an die Städte, an denen ein Urbizid
verübt wurde, wodurch auch alte
Spuren jüdischen Lebens aus dem städtischen
Raum gänzlich verschwunden sind.
Dadurch empfänden nämlich all jene eine
tiefe Verlustempfindung, die „den
Schmerz der Nichtexistenz jüdischer
Identität und die Verantwortung für diese
Tatsache heute auf sich nehmen, ganz gleich wer sie
sind“[13]. Die Vergegenwärtigung ist nicht eine
einfache
reproduktive Tätigkeit, es geht dabei auch nicht
um den Versuch, „sich in einen
Anderen hineinzuversetzen“, ein naiver
„Psychologismus“ oder gar „Metaphysik“
sind hier fehl am Platze. Vielmehr müssen wir uns
immer vor Augen halten, dass
wir es mit einer performativen Handlung zu tun haben,
die dem Betrachter einen
enormen Interpretationsspielraum ermöglicht. Ihm
ist es letztlich überlassen,
die Fotografien und Filme von den Reisen der
Künstlerinnen zu interpretieren,
die Leere der Winterlandschaft, die gelbe Farbe, die
oft in den Fotografien
auftaucht, und Natalia Szostaks Worte zu deuten: „Das
Blau des Himmels
verdunkelte sich, als wir den leeren Linienbus nahmen.
Ein paar Stationen
weiter in der Głuska-Straße stiegen wir wieder
aus. Wir bogen ein, zwischen die
Häuser. Hinter ihnen endete die asphaltierte
Straße und das Licht der Laternen.
Plötzliche Dunkelheit. Offener Raum, das
Knirschen des Schnees, das Weiß, die
Umrisse des Geländes. Wir wenden uns dem Wald zu.
Intakter, glatter Landstrich,
Pulver, Stille. Da sind sie. Vier solide vertikale
Platten. Überwuchert,
bemoost. Direkt an der Straße, wie Wild am
Straßenrand. Zu einer Einheit
getarnt; stehengeblieben“[14]. Es hängt von der Sensibilität und
Offenheit des
Betrachters ab, ob er sich von den Suggestionen der
Künstlerinnen leiten lässt.
Mit anderen Worten: ob er dazu bereit ist, ihnen zu
begegnen und an dem von
ihnen initiierten Prozess teilzunehmen. Es liegt auch
an ihm zu entscheiden, ob
er oder sie ihnen bis zum Ende folgen will, denn es
geht bei dem Prozess um die
Teilnahme an etwas sehr Intimem, auch wenn der
Betrachter sich immer noch auf einer
performativen Ebene bewegt. Der erwähnte
Verlustakt wäre vielleicht
abgeschlossen, wären zwei mit dem Phänomen
des Todes beständig einhergehende
Rituale, nämlich Bestattung und Trauer, erfolgt,
aber im Falle der meisten
Holocaustopfer war dies nicht der Fall. Das Projekt
von Natalia Szostak und
Weronika Fibich kann daher als eine gewisse
Trauervariante aufgefasst werden,
als Ersatz, eine nicht explizit ausgesprochene
Vollendung des Rituals, das
denjenigen gewidmet ist, um die nicht getrauert wurde
und deren Gräber nicht
existieren. Wenn die Trauer, wie die Psychologen sagen,
der
natürliche Beginn ist, die Toten zu vergessen, so
soll der in Die
Übung initiierte Prozess auch diesem
Zweck dienen. Dies mag im Zusammenhang mit den zuvor
genannten Aspekten der Vergegenwärtigung
und der Erinnerung als paradox erscheinen, doch ist
dies nur ein scheinbarer
Widerspruch. Es ist nicht erst seit heute bekannt,
dass Erinnern und Vergessen
miteinander verwoben sind und eine
Schlüsselkategorie in der Wissenschaft über
das individuelle und kollektive Gedächtnis
bilden. Daher ist für beide
Künstlerinnen bei ihrem Projekt die Frage so
wichtig, die sie sich selbst und
anknüpfend an Izabela Skórzyńska stellen:
Wie kann das vergessen werden, was
nicht vergessen werden kann?[15] In Anlehnung an die für die
Erinnerungskultur zentralen
Kategorien sei auch darauf verwiesen, dass Weronika
Fibichs und Natalia
Szostaks Projekt sich in zeitgenössische Muster
einreiht. Das Projekt stellt
mit Sicherheit den Versuch dar, ein dialogisches
Erinnern zu etablieren, das
transnational ist und in dem es nicht zu einer
Verschmelzung und Durchmischung
von Erinnerungen kommt oder gar einer
Vergemeinschaftung, sondern bei dem das
Gespräch ein Schlüsselmoment ist, die
Gegenseitigkeit bei der Bezugnahme auf
verschiedene Standpunkte und die Fähigkeit,
verschiedene Geschichtsbilder und
damit verbundene Erfahrungen miteinander zu
verknüpfen[16]. Für die
Stettiner Künstlerinnen sind
nationale Themen weniger wichtig, sie sprechen kaum
darüber, dagegen schaffen
sie aber zweifellos einen Raum für Begegnungen,
die auf Gesprächen und dem
Austausch von Erfahrungen beruhen, und diese
können in verschiedenen Sprachen,
Gesten und Traditionen verwurzelt sein. Für das Verständnis der von den
Künstlerinnen
vorgeschlagenen Erinnerungspraktiken kann auch die
Kategorie des vermittelten
Gedächtnisses wichtig sein. Sicherlich kann
hierbei aber nicht von Postmemory
gesprochen werden, über das
Marianne Hirsch schrieb. Es handelt sich nämlich
nicht um Erinnerungen von
Nachkommen der Deportierten, d.h. jener, die in einem
Milieu aufgewachsen sind,
das von Erzählungen über Zeiten vor ihrer
Geburt geprägt war[17]. Von einem
vermittelten Trauma kann hier
also nicht die Rede sein. Dies ist eine andere
Situation. Bemerkenswert an
Hirschs Konzept ist jedoch der Hinweis, dass die
zeitgenössische Beziehung zu
einem Objekt oder einer Quelle nicht durch
Erinnerungen, sondern durch
Vorstellungskraft und Kunst vermittelt wird[18]. Dies erscheint mir
zutreffend, denn der
Verweis auf die Vorstellungskraft in dem
Projekt/Prozess von Weronika Fibich
und Natalia Szostak ist von fundamentaler Bedeutung.
Diese wird durch
Fotografien, Eisblöcke und die Briefe der
Deportierten angeregt. Eine
interessante Variante des vermittelten
Gedächtnisses
ist die prothetische Erinnerung (prostethic
memory), in der die Vorstellungskraft und
künstlerisches Schaffen ebenfalls
eine zentrale Rolle spielen[19].
Sie zeichnet sich aber auch noch durch
einige andere Eigenschaften aus, die das Projekt der
Künstlerinnen gut
erfassen. Die Schöpferin des Begriffs, Alison
Landsberg, erklärt, dass die
prothetische „Erinnerung an der Schnittstelle zwischen
einer Person und einem
historischen Narrativ von der Vergangenheit, an einem
experimentellen Ort wie
einem Kino oder einem Museum auftritt. Im Moment des
Kontakts entsteht eine
Erfahrung, durch die die Person mit einer
größeren Geschichte verschmilzt.
[...] Dabei übernimmt die Person nicht nur ein
bestimmtes historisches
Narrativ, sondern auch eine persönlichere, tiefer
empfundene Erinnerung an ein
vergangenes Ereignis, das sie selbst nicht erlebt hat“[20].
Es muss hinzugefügt werden, dass sich die
prothetische Erinnerung durch die Fähigkeit
auszeichnet, „Empathie und soziale
Verantwortung sowie politische Allianzen zu
produzieren, die Rassen-, Klassen-
und Geschlechtergrenzen transzendieren“[21]. 4.
Abschluss. 12.
Februar 2022 Es ist später Nachmittag, ein sehr
arbeitsamer, zugleich
herrscht nahezu Stillstand. Im Hintergrund läuft
das Album Subaqueous Silence des Ayumi Tanaka
Trios. Die Musik hat mich in
den letzten Wochen beim Verfassen dieses Textes
begleitet. Ich kann diese
Verflechtung nicht näher erläutern. Sie hat
sich ergeben. Sie ist da. Die Musik
ist für mich keine akustische Versinnbildlichung,
sie ist vielmehr eine
Verlängerung, eine Ergänzung dessen, was
Natalia und Weronika in ihrem
Projekt/Prozess gemacht haben. Vielleicht liegt es an
der Stille, die dabei so
wesentlich ist? Oder vielleicht, weil sie eine
verwandte Art der Intimität und
Sensibilität in sich trägt? Vielleicht? Ich
bin mir der Arroganz meiner
Gedanken bewusst, denn ich ergänze von
außen eigenmächtig ein originäres
Konzept, dass von zwei Künstlerinnen ganz bewusst
geschaffen wurde. Doch
erinnere ich mich auch an ihre Anregung, um in dem,
was sie machen, eigene
Pfade zu finden, dass ihre Arbeit für
„Entdeckungen“ offen sei und vielfältige
Begegnungen ermögliche. Ich denke stets
darüber nach, ob ich Natalias und
Weronikas Arbeit richtig verstanden habe, obwohl ich
mir heute nicht mehr sicher
bin, ob man diese Frage auf diese Weise stellen
kann. Wichtiger sind aber
vielleicht die Impulse, die mir ihre Arbeit gegeben
hat, dank der ich wenn auch
keine Gewissheit, so doch eine tiefe
Überzeugung entwickelt habe, dass eine
rein sachliche Überlieferung der Geschichte im
Falle der Deportationen von
1940, vielleicht sogar hinsichtlich des Holocaust an
sich, unzureichend,
vielleicht gar unangebracht ist. Ich wünsche
mir, dass das von den Stettiner
Künstlerinnen initiierte Projekt/Prozess
fortgesetzt wird. Und ich bin ihnen
dankbar für die Begegnung, denn wir können
nun gemeinsam darüber nachdenken,
wie wir das erinnern und vergessen können, was
nicht vergessen werden kann. [1]
Hannah Arendt, Eichmann in
Jerusalem. Ein Bericht von der
Banalität des Bösen, München
1964. [2]
B. Twardochleb, Gegen das
Vergessen. Andrzej Kotula
engagiert sich für eine europäische
Erinnerungskultur in Stettin / Niezgoda na
zapomnienie. Portret:
Andrzej Kotula działa na rzecz europejskiej
kultury
pamięci w Szczecinie,
„Dialog“ 2020, Nr. 133, S. 76–88. [3]
Götz Aly, Europa gegen die Juden
1880–1945, Frankfurt am Main 2017, S. 379. [4]
Raul Hilberg, Täter,
Opfer, Zuschauer, Frankfurt am
Main 1992, S. 30. [5] Helmut
Müssener, Wolfgang Wilhelmus (Hg.):
Stettin – Lublin – Stockholm. Elsa Meyring: Aus
dem Leben einer deutschen
Nichtarierin im zwanzigsten Jahrhundert, Rostock
2015, S.81.
[6]
Wolfgang Wilhelmus, Flucht oder
Tod. Erinnerungen und Briefe
pommerscher Juden über die Zeit vor und
nach 1945, Rostock 2001, S. 196. [7]
Ebd., S. 252. [8] Vgl.u.a.
Wolfgang Wilhelmus, Auf jeden
Wagen kommt es an! Die Namensliste
der 1940 aus dem Regierungsbezirk Stettin
deportierten Juden, Rostock 2009; Helmut
Müssener, Wolfgang Wilhelmus, Stettin –
Lublin – Stockholm. Elsa Meyring:
Aus dem Leben einer deutschen Nichtarierin im
zwanzigsten Jahrhundert,
Rostock 2015; Eryk Krasucki, Historia
kręci drejdlem. Z
dziejów (nie tylko) szczecińskich
Żydów [Die Geschichte
dreht am Dreidel. Zur
Geschichte (nicht nur) der
Stettiner Juden], Łódź
2018, S. 85–121. [9]
Aufnahme des Interviews
von Agata Rokicka mit Weronika Fibich und Natalia
Szostak, vgl. „Zachowani w
kenkartach“ [Aufbewahrt in
Kennkarten] – Reportage von Małgorzata Frymus,
Polskie Radio Szczecin,
30.09.2020, Zugriff am: 15.02.2022,
https://radioszczecin.pl/395,2663,zachowani-w-kenkartach-reportaz-malgorzaty-frymu. [10]
Artur Daniel Liskowacki, Policzalna nieobecność. Rozmowa z
Weroniką Fibich i Natalią Szostak
[Zählbare Abwesenheit. Gespräch
mit Weronika
Fibich und Natalia Szostak],
„Kurier Szczeciński“, 22.09.2020, S. 6. [11] Emmanuel
Lévinas, Totalität und Unendlichkeit.
Versuch über die Exteriorität.
Freiburg/München 1993; Hans Belting, Bild-Anthropologie:
Entwürfe
für eine Bildwissenschaft, München
2002; Winfried Georg Sebald, Austerlitz,
München 2001. [12]
Maria Popczyk, Berlin –
miasto widzialnej nieobecności
[Berlin – Stadt der sichtbaren Abwesenheit],
in: Dylematy wielokulturowości [Dilemmata
des Multikulturalismus],
hrsg. v. Wojciech Kalaga, Kraków 2004, S.
239–261; Stolpersteine, Zugriff am:
15.02.2022,
https://www.stolpersteine.eu; Monika Krzykała, Jak dbać o pamięć zdarzeń i dziedzictwo
kulturowe? Ośrodek „Brama
Grodzka – Teatr NN“ [Wie können die
Erinnerung an Ereignisse und das kulturelle
Erbe gepflegt werden? Kulturverein
„Brama Grodzka – Teatr NN“],
in: Wiedza
(nie)umiejscowiona. Jak uczyć o Zagładzie w
Polsce w XXI wieku? [(Un)verankertes
Wissen. Wie kann im 21.
Jahrhundert in Polen über den Holocaust
gelehrt werden?],
hrsg. v. K. Liszka,
Kraków 2021, S. 207–229. [13]
Izabela Skórzyńska, Inscenizacje
pamięci: misteria
„nieobecności“ w Lublinie [Inszenierungen der
Erinnerung: die Mysterien der
„Abwesenheit“ in Lublin], in: Inscenizacje
pamięci [Inszenierungen der Erinnerung], Hrsg.
v. Izabela Skórzyńska,
Christine Lavrence, Carl Pépin, Poznań
2007, S. 90. [14]
Natalia Szostak, Experiment in
Catastrophe. Podróż
śladami deportowanych mieszkańców
Stettina w lutym 1940 r.
[Experiment in Catastrophe. Auf
den Spuren der im
Februar 1940 deportierten Stettiner],
„Uniwersyteckie Czasopismo Socjologiczne. Academic
Journal of Sociology“ 2021, Nr. 28, H. 2, S.
21. [15]
Izabela Skórzyńska, Zapomnienie:
gdzie jest i jak pracuje w kontekście historii i
pamięci Zagłady [Das Vergessen: Wo es ist
und wie es im Kontext der Geschichte und
Erinnerung an den Holocaus funktioniert.],
Zugriff am: 15.02.2022,
https://www.youtube.com/watch?v=itNxbskJZpw. [16]
Aleida Assmann, Das
gespaltene Gedächtnis Europas und das
dialogische Konzept des Erinnerns. in:
Zur Konkurrenz von Erinnerungskulturen in
Deutschland, Frankreich und Polen. Kassel
2012, S.127–155; Luisa Passerini, Response
on Borders, Conflict Zones, and Memory,
„Women's History Review“ 2016, Nr.
3, S. 447–457. [17]
Vgl.: Marianne Hirsch, Żałoba i
postpamięć [Trauer und Postmemory],
in: Teoria
wiedzy o przeszłości na tle
współczesnej humanistyki [Wissenstheorie
über die Vergangenheit im Zusammenhang
mit der zeitgenössischen
Geisteswissenschaft], Hrsg. v. Ewa Domańska,
Poznań 2010, S. 254. [18] Ebd. [19]
Alison Landsberg, Prosthetic
memory: the ethics and politics
of memory in an age of mass culture, in: Memory and popular film, Hrsg. v.
Paul Grainge, Manchester 2003, S.
144–161. [20]
Alison Landsberg, Prosthetic
Memory. The Transformation of
American Remembrance in the Age of Mass Culture,
New York 2004, S. 20,
Zitiert nach: Astrid Erll, Kollektives
Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine
Einführung, 2. aktualisierte
Auflage, Stuttgart/Weimar 2011, S. 158. Hier:
Übersetzung des englischen
Originals [Prosthetic
memory emerges
at the interface of a Person and a historical
narrative of the past, at an
experiental site, such as a movie theatre or a
museum. In this moment of
contact, an experience occurs through which the
person sutures himself or
herself into a larger history (…) In the process
the person does not simply
apprehend a historical narrative but takes on a
more personal, deeply felt
memory of a past event through which he or she did
not live.] [21] Ebd.
|
|||||||||||||
Experiment in Catastrophe |